Gastbeitrag: „Antisemitismus in Deutschland – Alltag statt Einzelfall“

Da sich der antisemitische Anschlag von Halle jährt, bieten wir dem Netzwerk „Aufstehen gegen Rassismus“ ein weiteres Mal unseren Blog als Plattform für einen Artikel, der euch mehr Verständnis für Antisemitismus und was ihr dagegen tun könnt geben soll. Sarah Lange hat dafür einige Ressourcen bemüht. Schaut auch gerne bei Aufstehen gegen Rassismus Bamberg vorbei.

Antisemitismus in Deutschland – Alltag statt Einzelfall

Was kann ich tun? Eine Ressourcensammlung.

Letze Woche jährte sich das Attentat von Halle. Medial und vor Ort wurde der Toten gedacht und den Überlebenden Mitgefühl und Solidarität bekundet. Und was bleibt? Noch immer scheinen Unverständnis und Entsetzen die vorherrschende Reaktion in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft zu sein, angesichts dessen, was man als Tat eines einzelnen gewalttätigen Antisemiten und Rassisten versteht.

„Nach wie vor frage ich mich, wie konnte sowas in unserer Gesellschaft wachsen, entstehen, möglich sein.“ So Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff zu Beginn seiner Gedenkrede vergangenen Freitag. Er bezieht sich dabei auf eine Gesellschaft, in der quer durch Bildungs- und Einkommensschichten jede und jeder Vierte unverhohlen antisemitischen Aussagen zustimmt.

Die menschenverachtende Ideologie des Mörders von Halle richtet sich gegen viele marginalisierte Gesellschaftsgruppen, das ursprüngliche Anschlagsziel einer gut besuchten Synagoge rückt seinen Antisemitismus jedoch in den Vordergrund. Dass sich diese Gesinnung nennenswerter gesellschaftlicher Verbreitung erfreut, zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Deutschland nicht mit der Aufarbeitung vermeintlicher Einzelfälle enden darf.

Was können wir als Einzelne tun, um langfristig wie akut gegen Antisemitismus vorzugehen? Eine einleitende Übersicht an Hinweisen, Anlaufstellen und Ressourcen:

Betroffeneninitativen wahrnehmen und unterstützen.

Die Perspektiven der Betroffenen haben in der Aufbereitung antisemitischer Gewalt Vorrang und sollten den Diskurs darüber bestimmen. Ihnen obliegt es, die Geschehnisse einzuordnen, Protest und Gedenken zu gestalten und anschließende Forderungen nach Maßnahmen zu formulieren.

Dabei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass ‚die Betroffenen‘ niemals einen einheitlichen Block darstellen. Individuen und Gruppierungen haben ihre jeweils eigenen Wege mit Situationen umzugehen und sollten in ihrer Vielfalt wahrgenommen und respektiert werden. Social Media bietet Betroffenen die Möglichkeit, selbstermächtigt zu spezifischen Anlässen Initiativen zu bilden und ihnen eine Plattform zu geben, wie zum Beispiel der Initiative 9. Oktober Halle. Im Prozess von Halle äußern sich derzeit viele Vertreter*innen der Nebenklage öffentlich zu ihren Erfahrungen rund um das Attentat und seine Aufklärung.

Zudem gibt es allgemeinere Bildungsverbände und Aktivengruppen, deren Online-Präsenzen wertvolle Aufklärungsarbeit leisten und unseren persönlichen News-Feed mit aktuellen und relevanten Perspektiven beliefern. Beispielsweise KIgA e.V. (Twitter), OFEK e.V. (Twitter, Facebook) oder die Amadeu Antonio Stiftung (Twitter, Facebook, Instagram).

VirtuellKonkret geht das zum Beispiel, indem man die Aussagen von Betroffenen in den Medien teilt, an Kundgebungen und Demonstrationen teilnimmt oder die Initiator*innen durch Spenden unterstützt. Projekte wie https://www.nsu-watch.info/ beobachten Ermittlungsbehörden und Justiz kritisch in der Aufklärung rechtsextremer Verbrechen und lassen in ihrer Podcast-Serie „Einmischen und Aufklären“ auch Betroffenen und Beteiligte der Prozesse zu Wort kommen.

Bilden und sensibilisieren

Was eigentlich ist Antisemitismus? Klar, ein Grundverständnis davon haben wir alle, eng verknüpft mit Nationalsozialismus und Shoah: Hass und Angriffe gegen Menschen jüdischen Glaubens, die wir alle seit 1945 bekehrt und entnazifiziert nach Kräften verurteilen. Doch Antisemitismus lässt sich auch und gerade in Deutschland nicht darauf beschränken und hat mit den Verbrechen der Nationalsozialisten weder seinen Anfang noch sein Ende genommen.

Die lange und komplexe Geschichte jüdischen Lebens und des Antisemitismus machen diesen zu einer Gesinnung, die sich gesellschaftlich vielfältig äußert, immer wieder unterschiedlich instrumentalisiert und begründet wird und wurde.

Wichtig ist auch, Antisemitismus nicht als rechtsextremes, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem zu betrachten. Denn auch auf Seiten linker bzw. sonst progressiver Kräfte gibt es immer wieder Äußerungen oder Solidaritätsbekundungen zu anderen Organisationen, die das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen. Auch das kann die Tür für weitere Ressentiments gegen Israel und Jüd*innen öffnen, ist gefährlich und antisemitisch.

Zum Auffrischen oder Einsteigen:

https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37945/was-heisst-antisemitismus?p=0

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/antisemitismus/was-ist-antisemitismus/

http://emafrie.de/tag/antisemitismus/

Wer tiefer einsteigen möchte findet hier eine Zusammenstellung von Grundlagenliteratur und anderen Publikationen zum Thema. Eine Dokumentation aktueller Tendenzen sowie konkreter Anklagen bietet das viel besprochene Buch „Terror gegen Juden – Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ des Juristen und Journalisten Ronan Steinke. Seine Hauptbefunde und Forderungen diskutiert er auch unter anderem in diesem Interview.

Mit theoretischem Wissen ausgestattet kann es dennoch schwer im Alltag antisemitische Aussagen oder Haltungen als solche zu erkennen. Auf https://www.stopantisemitismus.de/ wurden 35 Zitaten aus dem deutschen Alltag zusammengetragen und ihr antisemitischer Gehalt ausführlich erklärt. Mangelndes Bewusstsein und fehlende Reflektion ermöglichen den Fortbestand althergebrachter antisemitischer Überzeugungen. Dem entgegenzuwirken benötigt es eine zunehmende Sensibilisierung, Aufmerksamkeit auch für vermeintlich Unbedeutendes: Nicht wenige klangvolle, gern gebrauchte Begriffe der deutschen Sprache sind aus dem Jiddischen entlehnt, wie z.B. ‚meschugge‘ oder ‚Schlamassel‘. Jiddismen bereichern unsere Ausdrucksfähigkeit, ihre Aneignung kann jedoch auch problematisch sein, wenn die eigentliche Bedeutung dahingehend verdreht wird, dass sie bewusst abwertendgegen ihren jüdischen Ursprung verwendet wird. Das Buch „Antisemitismus in der Sprache – Warum es auf die Wortwahl ankommt“ erklärt die Hintergründe oft unbewusst antisemitischer Begriffe wie ‚mauscheln‘ oder ‚Mischpoke‘, öffentlich zugänglich ist dazu ein Ausschnitt als taz-Artikel.

Eine Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und jüdischem Leben sollte zudem nicht ausschließlich anlässlich antisemitischer Gewalt erfolgen. Auf dem Kulturblog „irgendwie jüdisch“ finden sich ausführliche Listen empfehlenswerter Bücher, Blogs und Podcasts, die zum Stöbern einladen. Meist geht es nicht explizit um Antisemitismus oder jüdischen Glauben, es ist vielmehr eine umfassende Sammlung von Inhalten und Projekten, die manchmal für und zumeist von jüdischen Personen geschaffen wurden. Unterstützung und Auseinandersetzung mit Werken, die Jüdischsein nur unter anderem thematisieren, ermöglichen den Prozess einer ‚Normalisierung‘ und Akzeptanz, wie sie explizite Bildungsarbeit nicht unbedingt leisten kann. Außerdem bieten sie Einblicke in jüdische Lebensrealitäten, wie sie Außenstehende sonst oft nicht erfahren, unersetzlich im Vorbeugen und Abbauen von Vorurteilen.

Im Alltag einschreiten

Sobald ein gewisses Bewusstsein dafür vorhanden ist, worin Antisemitismus Ausdruck finden kann, fallen einem zunehmend mehr kritische Situationen und Aussagen auch im eigenen Alltag auf. Hier gilt es, auf keinen Fall durch Schweigen Indifferenz oder gar Zustimmung zu signalisieren.

Gesellschaftlich tief verwurzelt und unhinterfragt sind antisemitische Haltungen vielen derer, die sie vertreten, als solche nicht unbedingt bewusst. Ein möglichst vorwurfsfreies Nachhaken und begründete Widerrede können hier wichtige Denkprozesse anstoßen. Die bereits erwähnten Zitate von https://www.stopantisemitismus.de/ sind hierzu jeweils mit Handlungsempfehlungen und Gesprächsanstößen versehen, um zu deeskalieren, widersprechen und aufzuklären.

Mit besonderen Blick auf den Online-Diskurs hat auch die Amadeu Antonio Stiftung in ihrem Projekt „Nichts gegen Juden“ eine Sammlung ausführlicher Argumentationshilfen gegen einige der häufigsten antisemitischen Vorwürfe zusammengetragen.

Nicht immer kann man jedoch persönlich direkt eingreifen, etwa zum Schutz der eigenen Sicherheit, weil Argumentieren schlicht zwecklos ist oder weil man Taten nicht selbst miterlebt. Dennoch muss hier gehandelt werden, wenn möglich sollte strafrechtliche Anzeige erstattet werden, in jedem Fall sollten die Vorkommnisse Dokumentations- und Recherchezentren wie dem Recherche- und Informationszentrum Antisemitismus unter https://report-antisemitism.de/ gemeldet werden.

Aufmerksam bleiben

Zivilgesellschaftliches Engagement gegen und die Auseinandersetzung mit Antisemitismus allein können auch nur so viel erreichen. Der Rechtsstaat und seine Organe sind ebenso in der Verantwortung und müssen dahingehend beobachtet und zur Rechenschaft gezogen werden. Das derzeit wöchentliche Bekanntwerden rechtsradikaler Vorfälle und Netzwerke in Sicherheit- und Ermittlungsbehörden bestätigt Betroffene in ihrem schon seit langem geäußerten Misstrauen und ihren Anklagen.

Ein unnachgiebiges und langfristig aufmerksames zivilgesellschaftliches Vorgehen gegen jeden Antisemitismus und andere menschenverachtenden Ideologien ist daher wichtiger denn je.